Mängel bei Tierversuchen in der Schweiz

(Bildquelle: infoticker)

Im Zuge der "Reproduzierbarkeitskrise" in den biomedizinischen Wissenschaften wurden auch der Erkenntnisgewinn aus Tierversuchen und damit deren ethische Vertretbarkeit in Frage gestellt. Forschende der Universität Bern haben im Auftrag des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen...

Die wissenschaftliche Qualität von Tierversuchen untersuchten Forschende der Abteilung Tierschutz an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern in zwei schweizweiten Studien: In einem ersten Schritt wurden alle 1'277 Tierversuchsgesuche der Jahre 2008, 2010 und 2012 sowie eine zufällige Stichprobe von 50 daraus hervorgegangenen wissenschaftlichen Publikationen auf Angaben zur Einhaltung grundlegender Kriterien guter Forschungspraxis (darunter Randomisierung, Verblindung, Stichprobenberechnung) geprüft.

"Die Einhaltung dieser Kriterien ist Voraussetzung für unverfälschte, aussagekräftige Ergebnisse", sagt Prof. Hanno Würbel, Leiter der Abteilung Tierschutz.

Sowohl in Tierversuchsgesuchen, als auch in Publikationen waren jedoch nur selten konkrete Angaben zur Einhaltung der Kriterien guter Forschungspraxis zu finden.

So wurde in weniger als 20 Prozent der Anträge und Publikationen erwähnt, ob eine Berechnung der Stichprobengrösse durchgeführt worden war (8 Prozent in Anträgen, 0 Prozent in Publikationen), ob die Tiere zufällig (randomisiert) auf die Behandlungsgruppen verteilt worden waren (13 Prozent in Anträgen, 17 Prozent in Publikationen) und ob die Daten verblindet erhoben worden waren, das heisst ohne zu wissen, welche Tiere welcher Behandlungsgruppe angehörten (3 Prozent in Anträgen, 11 Prozent in Publikationen).

Werden Kriterien guter Forschungspraxis nicht eingehalten?

Heisst dies nun, dass Kriterien guter Forschungspraxis in über 80 Prozent der Tierversuche nicht eingehalten und damit Versuchstiere für nicht-aussagekräftige Tierversuche verwendet worden waren?

"Nein", meint Studienleiter Hanno Würbel. "Es könnte sein, dass die Kriterien von den Forschenden zwar eingehalten wurden, dass sie dies in ihren Anträgen und Publikationen jedoch nicht erwähnt hatten. Deshalb fragten wir bei den Forschenden selber nach."

Mangelndes Problembewusstsein und ungenügende Kenntnisse

In einem zweiten Schritt wurde deshalb unter allen 1'891 Forschenden, die im zentralen Informationssystem des BLV erfasst und an laufenden Tierversuchen beteiligt waren, eine Online-Befragung durchgeführt. Befragt wurden die Forschenden unter anderem dazu, welche Kriterien guter Forschungspraxis sie normalerweise einhalten und zu welchen dieser Kriterien sie in ihrer letzten wissenschaftlichen Publikation konkrete Angaben gemacht hatten.

An der Befragung nahmen knapp 30 Prozent der angeschriebenen Forscherinnen und Forscher teil. Gemäss der Datenverteilung handelt es sich dabei um eine repräsentative Stichprobe. Demnach liegt die Einhaltung wissenschaftlicher Qualitätskriterien deutlich über den anhand von Versuchsanträgen und Publikationen ermittelten Werten.

So gaben 86 Prozent der Teilnehmenden an, die Tiere grundsätzlich zufällig (randomisiert) auf die Versuchsgruppen zu verteilen, doch nur 44 Prozent gaben an, dies in ihrer letzten Publikation auch explizit erwähnt zu haben.

Gleiches gilt für die übrigen Kriterien, zum Beispiel für die Berechnung der Stichprobengrösse (69 Prozent gaben an, dies zu tun, doch nur 18 Prozent gaben an, dies in ihrer letzten Publikation erwähnt zu haben) oder für die Verblindung bei der Datenerhebung (47 Prozent gegenüber 27 Prozent).

Daraus ziehen die Forschenden zwei Schlüsse: So zeigen die Ergebnisse einerseits, dass Erhebungen, die auf Angaben in Tierversuchsgesuchen oder Publikationen basieren, die tatsächliche Einhaltung der Kriterien guter Forschungspraxis wohl erheblich unterschätzen.

Andererseits deuten sie aber auch darauf hin, dass die Forschenden die Qualität ihrer Versuchsdurchführung überschätzten: "Wir fanden deutlich weniger Publikationen mit konkreten Angaben zur Einhaltung wissenschaftlicher Qualitätskriterien als von den Forschenden behauptet", sagt Würbel.

So gaben beispielsweise 44 Prozent der Forschenden an, in ihrer letzten Publikation explizite Angaben zur Randomisierung gemacht zu haben, doch nur in 17 Pro zent der Publikationen wurden tatsächlich entsprechende Angaben gefunden.

Zudem deuten sowohl die Online-Befragung als auch begleitende Interviews mit ausgewählten Forschenden auf ein mangelndes Bewusstsein für die Problematik und ungenügende Kenntnisse über Massnahmen zur wissenschaftlichen Qualitätssicherung hin.

Aus - und Weiterbildung fördern

Wissenschaftliche Qualität ist Voraussetzung für die ethische Rechtfertigung von Tierversuchen. Laut Tierschutzgesetz sind belastende Tierversuche auf das unerlässliche Mass zu beschränken. Dazu gehört, dass Tierversuche bedeutende Erkenntnisse liefern.

Die Einhaltung der untersuchten Kriterien guter Forschungspraxis ist somit eine grundlegende Voraussetzung für die Rechtfertigung von Tierversuchen. Im Rahmen der gegenwärtigen Bewilligungspraxis wird grundsätzlich auf die Einhaltung dieser Kriterien vertraut. Die vorliegenden Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass dieses Vertrauen nicht ausreichend erfüllt wird.

Um einen drohenden Vertrauensverlust abzuwenden und die zuständigen Institutionen in ihren Aufgaben zu stärken, empfehlen die Autoren der Studien, vor allem in die Aus - und Weiterbildung in Methoden guter Forschungspraxis und wissenschaftlicher Integrität zu investieren.

Zudem sollte das Genehmigungsverfahren für Tierversuche auf Verbesserungspotenzial hin überprüft werden.

Die beiden Studien werden nun in den Fachjournals PLOS Biology und PLOS ONE publiziert.