Immer mehr Familien und Minderjährige flüchten in die Schweiz

(Bildquelle: infoticker)

Die Schweizer Behörden müssen die Flüchtlingsfamilien stärker in den Fokus nehmen und ihre Integrationschancen verbessern. Das würde ihnen viele Probleme ersparen und der Schweiz eine Ressource eröffnen. Die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF) gewann für ihre diesjährige Tagung in...

Seit 2012, als die grosse Mehrzahl der Asylsuchenden junge Männer waren, hat sich das Profil der schutzsuchenden Menschen in Richtung Familien und Minderjährige verschoben. So habe sich die Zahl der Kinder unter 5 Jahren in dieser Zeit verdoppelt. "Wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht aus dem System fallen», sagte Bundesrätin Sommaruga dazu am Dienstag (20.6.17) in Bern, die unter dem Thema «Flucht - Familie als Ressource oder Belastung?".

Denn oft entstünden die psychischen Belastungen und Traumata von Flüchtlingen erst in unserem Land, weil die Umstände - etwa das lange Warten auf den Asylentscheid - für sie schwierig seien. Und davon seien gerade viele Kinder betroffen. Dann könne die Familie sogar zur Belastung für die Kinder werden. Es brauche daher ein hohes Engagement der Zivilgesellschaft, aber auch bessere Strukturen und Koordination.

Dabei müsse das Ziel sein, dass die Migranten möglichst bald auf eigenen Füssen stehen könnten. Auch wenn nicht alle so erfolgreich sein werden, wie die Maggi-Brüder, damals Emigranten aus der Lombardei. Sommaruga würdigte dabei ausdrücklich die vielen Beiträge von NGOs und Freiwilligen in der Schweiz bei der Integration von Flüchtlingen.

Bundesrätin regt positive Konkurrenz unter den Kantonen an

Laut Angaben der Justizministerin sind bei drei Viertel der Schutzsuchenden die Voraussetzungen vorhanden, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Ein Beitrag dazu sei der Beschluss, dass sich inskünftig auch arbeitssuchende Schutzbedürftige beim RAV anmelden können und den Arbeitgebern gemeldet werden, wenn die Voraussetzung betr. Inländervorrang dafür gegeben sind.

Sommaruga wies darauf hin, dass die Erfolge der Kantone bei der Integration sehr unterschiedlich seien. Sie regte an, sich die besonders erfolgreichen Kantone als Beispiel zu nehmen. Sie wies darauf hin, dass es nicht an Arbeit mangle. Zum Beispiel seien im letzten Jahr 10'000 Lehrstellen nicht besetzt worden.

Schweiz verletzt internationale Verpflichtungen

Der Rechtsprofessor an der Universität Neuenburg Minh Son Nguyen ist ein Abkömmling der in den 70er und 80er Jahren bekannten Boat People, von denen auch zahlreiche in die Schweiz kamen. Heute betätigt er sich als Berater von Flüchtlingsfamilien und setzt sich für ihre Rechte ein. Er sieht die Familienpolitik des Bundes gegenüber Flüchtlingsfamilien kritisch.

Die Schweiz habe internationale Abkommen zum Schutz der Familie abgeschlossen, an die sie sich halten müsste. Doch schon die (neueste) Regelung des Familiennachzugs mit den langen Wartefristen verletze diese Abkommen. Dabei habe die Schweiz ein Interesse, dass es den Flüchtlingsfamilien gut gehe, denn gerade auch Familiennachzügler brächten ein Potenzial mit, das für die Schweiz einen Nutzen bringe.

Gute Voraussetzungen für die Wenigen schaffen, die zu uns kommen

Gianni D’Amato, Professor für Migration und «Citizenship Studies» an der Universität Neuenburg, zeigte auf, dass Europa nur einen kleinen Prozentsatz der weltweit 65 Mio Flüchtlinge aufnimmt. Er wies dabei auf den Anteil von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen hin, der sich von 2014-16 in der Schweiz von 3.3 auf 7,3 Prozent verdoppelt habe. Sie hätten zumeist positive Absichten und Motivationen, könnten diese aber nicht umsetzen. D’Amato nannte sie "Pioniere", denen die Schweiz eine Chance geben sollte, indem sie ihnen Bildung und Teilhabe ermögliche.

Leider pflege die Schweiz nach wie vor die Illusion, dass die Migranten irgendwann wieder zurückreisen und man sie daher nicht fördern solle. Gerade dieses Verhalten sei aber für die Probleme mit den Migranten aus dem Maghreb in Frankreich verantwortlich. Er zitierte ein afrikanisches Sprichwort: "Wenn der Wasserkrug auf deinem Kopf zerbricht, dann wasche dich mit dem vergossenen Wasser."

Weniger Psychiater - mehr Kulturvermittler

Fana Asefaw ist nicht nur leitende Fachärztin für Kinder und Jugendpsychiatrie in der Psychiatrischen Klinik Littenheid, sondern bietet auch kostenlose Sprechstunden für hilfesuchende Flüchtlingsfamilien an. Nach ihren Erfahrungen werden auffällige Kinder in der Schule zu schnell an die Psychiatrie verwiesen. Diese könne aber oft nicht die richtigen Hilfestellungen anbieten und sei erst noch zu teuer. Besser wäre es, mehr Kulturvermittler einzusetzen, die das Vertrauen der Kinder gewinnen können und zwischen ihnen und ihren Eltern sowie mit der Schule vermitteln können.

Postmigratorische Stressfaktoren

Laut der Fachärztin, die mit einer Dissertation über die Beschneidung von Frauen Aufsehen erregt hat, sind die meisten Flüchtlinge trotz den Strapazen überwiegend psychisch gesund. Bei vielen Flüchtlingskindern überwiegen laut ihrem Befund "postmigratorische Stressfaktoren", also Belastungsstörungen, die aufgrund der schwierigen und unsicheren Existenz als Asylsuchende in der Schweiz und andern europäischen Ländern entstanden sind. Es handle sich bei den Flüchtlingsfamilien meistens um Menschen, die aber im Zielland auf eine für sie schwierige Umwelt gestossen seien.

Wenn das Dorf nicht mehr miterzieht

Daher seien Mütter oft überfordert, weil sie die Stütze der (Gross)Familie mit ihrer patriarchalischen Struktur verloren haben. Bei Kindern seien sie sich gewohnt gewesen, dass das ganze Dorf miterzieht, hier sei sie auf sich allein gestellt, vielleicht auch zusammen mit einem Mann, der wegen enttäuschter Hoffnung auf Arbeit in den Alkohol flüchte.

In den Sprechstunden redeten diese Menschen daher oft lieber über die aktuellen Probleme, insbesondere mit intervenierenden Behörden, als über die schwierige Vergangenheit und die Flucht. Asefaw riet, bei Fehlverhalten von Jugendlichen mehr auf die Karten "Beziehungen" und Vertrauensaufbau zu setzen, als auf behördliche Interventionen, die oft Angst auslösen.

Artikelfoto: Fritz Imhof